MeinungWeb & Netzkultur

Warum #Twitterjournalismus tierisch nervt

Journalisten sind von Natur aus faul, deshalb gucken sie gerne ins Empörungsnetzwerk Twitter. Der daraus resultierende Twitterjournalismus ist die Pest.

Es zwitschert im Blätterwald: Wann immer ein Journalist ein Thema abfrühstücken muss, von dem er keine Ahnung hat oder zu dem er keine Gesprächspartner findet, schmeißt er Twitter an. Schließlich ist Twitter total ”real” und voll am Zahn der Zeit. Politiker, Stars, Starlets und Schneeflöckchen können hier gleichberechtigt ihre Stinkbomben unter sich lassen. Das Resultat sind längst nicht mehr nur fremdbeschämte Twitter-Zusammenfassungsartikel, sondern echte Schlagzeilen. Allein ein Blick auf die Trump-Regierung in den USA reicht aus, um festzustellen, das Twitter längst nicht mehr nur ein Meinungs-, sondern ein Meinungsmachermedium ist. Der Grund dafür ist allerdings nicht Twitter – sondern sich progressiv verortende Journalisten, die das Medium einfach falsch verstehen.

Mit dem Chat fing alles an

Als ich Ende 1997 im zarten Alter von 18 für teures Geld mit dem Internetzeugs anfing, gab es ein interessantes und für damalige Verhältnisse völlig neues Medium: Den ”Damn New Chat” auf der Unicum-Website. Das Ding gehörte damals – neben dem GMX-Mailkonto – zum absoluten Pflichtprogramm für neue Internet-Neunutzer. Neben dem dicken Geldbeutel für die aus heutiger Sicht obszön teuren Internettarife. Mit einer tollen, längst stillgelegten Mailadresse mit Pseudonym – Anonymität musste schließlich sein – besuchte ich also regelmässig diesen Chat. Das war toll: Man konnte mit völlig fremden Menschen kommunizieren, flirten, lachen, Bilder posten und HTML-Tags in das System kloppen. Harmlos, banal, unverbindlich, egozentrisch.

Unter dem Radar

Leider kam mit den Nutzern auch mehr und mehr Gewalt und Pornografie in den Chat, in Form komischer Links und pixeliger Bilder. Menschen schlugen sich mit halbgaren politischen Statements die Köpfe ein, es wurde gepöbelt, beleidigt und getrollt, was das Zeug hält. Dadurch lernte ich schon früh sehr viel über die Dynamik des Internets und der Chat wurde irgendwann abgeschaltet. Allerdings flog das Ding damals komplett unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung, war ein Nerd-Spaß. Und kein Journalist hätte damals ernsthaft aus diesem Chat zitiert, ohne sich lächerlich zu machen. Dummerweise ist das Internet-Jahrhunderte her. Denn heute gibt es Twitter.

Die Geburtsstunde des Twitterjournalismus

Angefangen hat es Anfang 2009. Da wurde mir eines Tages in der Redaktion mitgeteilt, dass Twitter ”ein echter Multiplikator” und das ”nächste große Ding” sei. Als schon damals altgedienter Blogger und Schreiberling hatte ich das bisher nicht so wahrgenommen, ehrlich gesagt war Twitter in meiner persönlichen Wahrnehmung irgendwo zwischen den seinerzeit explodierenden Startup-Ideen irgendwelcher kreativer Nerds untergegangen. Dienste aller Art sprossen in den Nullerjahren wie Pilze aus dem Boden.

… und ich fand’s immer doof

Aus meiner Erfahrung hatte ich den Dienst – 140 Zeichen, damals noch ohne Bilder – beim ersten Hörensagen 2007 sofort unter ”Eintagsfliege” einsortiert, davon gab es schließlich reichlich zu der Zeit und die Prognose lautete damals entweder „Verschwindet in einem Jahr“ oder „Wird von Google gekauft“. Letzteres erschien mir damals unwahrscheinlich, zumal Google ja selbst an irgendwelchen Netzwerken feilte.
Im Gegensatz zu echten Knüllern wie Google Maps oder Facebook sah ich in Twitter absolut keinen Mehrwert. Damit habe ich auch bis heute Recht. Dumm nur, dass alle anderen das offensichtlich anders sehen – und nein: Das ist keine Form des alten Geisterfahrer-Witzes, sondern gelebte Vernunft.

Weltweiter Riesenchat mit Meinungs-Diarrhoe

Dabei ist Twitter bis heute nichts weiter als eine globale Form des Unicum-Chats: Millionen Menschen, die nichts besseres zu tun haben, treffen sich hier, um sich gegenseitig winkende Smileys zu schicken, halbgare Flirtversuche zu unternehmen, Katzenbilder zu posten oder schlicht in der Hoffnung auf ein paar Retweets und 15 Minuten Ruhm Unsinn in die virtuelle Leere zu brüllen. Hier und da sind auch ein paar nette Links dabei, gelegentlich eine sinnvolle Debatte. Doch die gleiten, zielsicher Godwin’s Law folgend, ohnehin nach kürzester Zeit in Nazi-Debatten ab. Dazwischen Politiker, die vor allem danach streben, sich nachhaltig zu blamieren. Wer das nicht glaubt, sollte einfach mal eine Nacht durchmachen und seinen Twitterstream mit einem beliebigen politischen Hashtag beobachten. Einfach nur beobachten, nicht mitmachen.

Wir sind auch dabei

Ich möchte mich hier natürlich nicht mit allen Twitterern anlegen, unter @tutonaut twittern wir ja schließlich selbst. Weil dieses Twitter dann ja doch auf einem sehr niedrigen Niveau irgendwie Spaß macht. Genau wie dieser Unicum-Chat damals. Man kann sich der Lust des Unter-sich-Lassens kaum entziehen. Inzwischen gibt es mehr Zeichen und Bilder – und unendliche Möglichkeiten, in die Leere zu schreien, in der Hoffnung, irgendwie Relevanz, Empörung oder Mitleid zu erzeugen.
Nur: Woher kommt die Liebe der Journalisten zu diesem Riesenchat?

Was mögen Journalisten an dieser Bullshit-Fabrik?

Seine wenigen Stärken spielt Twitter immer dort aus, wo Internet eigentlich stark zensiert, schwer verfügbar oder schlicht verboten ist: Die Arabellion Anfang 2011 brachte den Dienst dann auch ins öffentliche Bewusstsein, weil hier Originalmaterial zu finden war, das sonst nie von einer breiten Öffentlichkeit hätte gesehen werden können. Die damals 140 Zeichen und die Möglichkeit, ein Bild oder Video zu posten, sind dank Smartphones in Windeseile ausgenutzt, da muss weder das Hirn, noch das Internet besonders schnell sein. Übrigens eine Funktion, die heute „Dank“ vielfältiger staatlicher Zensurmethoden in Drecksregimen das Darknet übernimmt.

Retweets machen das Medium schnell

Retweets und die richtigen Follower vorausgesetzt, kann sich ein erfolgreicher Tweet in kürzester Zeit über den Globus verbreiten und von Millionen Menschen gelesen werden. Das ist grundsätzlich gut. Allerdings gibt es einen Fehler im System: Die scheinbare Reichweite ist gar keine – und trotzdem der feuchte Traum eines jeden Journalisten. Twittert ein Trump, halten viele Kollegen das für Weltpolitik. Twittert Trump in adoleszenter Ejaculatio Pracox mit Kim Jong Un, wird der dritte Weltkrieg beschworen. Irgendwelche schneeflockigen Halbhirn-Mimöschen erfinden Hashtags, um auf Ungerechtigkeiten hinzuweisen. Und was passiert außerhalb des Twitter-Mikrokosmos? Eben: Nichts.

Die Medien sind voll dabei

Wobei Stopp: Es passiert doch etwas, denn manch Twitter-Kleinkrieg wird von den Führenden als Volksmeinung wahrgenommen. Denn ein scheinrelevantes Hashtag springt auf die regulären Medien über, vermutlich, weil irgendein junger Kollege in irgendeiner Redaktion mit seinen Internet-Kenntnissen angeben will, um irgendwelche alten, weißen Männer (und Frauen) zu beeindrucken. Und um nicht auf die Straße gehen zu müssen, um sich mit der echten Welt auseinander zu setzen. Der Stein des Anstoßes wird von weniger versierten Medien abgeschrieben und binnen weniger Stunden erreicht das halbgare Geplapper den News-Status, den es nie verdient hätte. Gesellschaftliche Debatten entflammen, wenn der Twitterkram es in die Tagesschau oder den Stern schafft. Das 140-Zeichen-Geblubber wurde plötzlich als ”relevant” eingestuft, an der Debatte nehmen aber wieder nur Twitterer teil. Die Folgen sind bekannt: Energiewende, Flüchtlingskrise, Piratenpartei, AfD, Donald Trump, #Aufschrei, #Nazisraus und bereits mehrere unsachlich twitterisierter Wahlkämpfe in westlichen Demokratien, um nur einige Beispiele zu nennen. Und natürlich Twittermädchen, die bei Talkshows und Wahlberichterstattung vor die Kamera gezerrt werden, um Tweets vorzulesen. Ist das schon Relevanz? Nein: Es ist ein Sturm im Wasserglas. Hier und da musste mal jemand wegen eines Twitter-Skandälchens seinen Hut nehmen, doch das war es auch schon.

Die Illusion der Wichtigkeit

Da allerdings inzwischen jede wichtige und sehr viele unwichtige Personen twittern, glauben viele Journalistenkollegen inzwischen, dass Twitter die vielgesuchte ”Volksmeinung” widerspiegelt. Und genau hier liegt der Denkfehler. Twitter ist und bleibt ein Medium von Menschen, die vom oder im Web ”leben”, also ein Medium der Blogger, Agenturtypen, Freiberufler, Schüler, Studenten, einsamen Singles und Arbeitslosen. Und natürlich von Politikern und Journalisten für Politiker und Journalisten. Kurzum: Twitter ist ein Medium für Leute, die zu viel Zeit und hohle Gedanken haben. Denn wer tagtäglich einer geregelten Arbeit nachgehen muss, ist weder in der Lage, eine der zahllosen Diskussionen und Hashtags im permanenten Strom der Tweets zu verfolgen, noch etwas dazu beizutragen. Weil sie schlicht keine Zeit für so einen Quatsch haben. Die Masse der Bevölkerung twittert eben nicht, sondern sitzt abends vor Facebook, irgedwelchen Foren oder, naja, Chats, weil das einfach übersichtlicher ist.

Massive Meinungsverzerrung

Und so verzerren sich die Inhalte und Meinungen auf Twitter einseitig zu denen, die sich ohnehin schon in der immer gleichen Filterblase herumtreiben. Es ergibt sich ein simpel gestrickter Einheitsbrei, der immer die gleiche Stoßrichtung hat. Man bestätigt sich gegenseitig in selbsterfundenen Scheindebatten und hebt diese auf die politische Agenda, völlig vergessend, was der nichttwitternde Otto Normal tagtäglich denkt und tut. Und so kommt es auch zustande, dass sich die Kollegen bei der Vorberichterstattung zu Wahlen in letzter Zeit so oft vertun: Brexit? Kann nie passieren. Trump? Den wählt doch keiner. AfD? Tja, damit konnte ja keiner rechnen, laut Twitter jedenfalls.

Minderheitenmeinung als Mainstream

All diese Phänomene sind jedoch keine Folge von Twitter, sondern vom der Inkompetenz des Umgangs damit. Journalisten neigen dazu, zu glauben, dass Twitter die Bevölkerung widerspiegelt, doch Twitter enthält eben nur einen Teilbereich der Bevölkerung. Und zwar einen kleinen. Womit Twitter als Medium nicht die Meinung der Bevölkerung, sondern die einer Bevölkerungsgruppe mit spezifischen sozioökonomischen Verhältnissen widerspiegelt. Damit ist Twitter als Trendbarometer für den Journalismus in etwa so sinnvoll und hilfreich wie eine Pressemeldung des deutschen Kaninchenzüchterverbandes. Für den so mancher Kollege ja bis heute noch twittern muss. Zumindest, wenn der Kaninchenzüchterverband das Medium schon entdeckt haben sollte.
Aber vermutlich haut man da noch heute auf die F5-Taste, um den Unicum-Chat wieder zum Leben zu erwecken.

Christian Rentrop

Diplom-Journalist, Baujahr 1979. Erste Gehversuche 1986 am Schneider CPC. 1997 ging es online. Seither als Schreiberling in Totholzwäldern und auf digitalen Highways unterwegs. Öfter auch auf der Vespa oder mit dem Wohnwagen unterwegs. Seit 2020 Tochtervater, dementsprechend immer sehr froh über eine kleine Kaffeespende.

2 Kommentare

  1. Wie immer: Ich weiß alles besser. Meine Blubberblase ist die einzig richtige und alle Anderen sind sowieso doof. Das hier ist also – im Umkehrschluss nach Lesart des Verfassers – dann Qualitätsjournalismus? Vielleicht trifft der alte Geisterfahrerwitz doch zu? Oder ist es einfach doch nur der Anflug von Meinungsdiktatur?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Schaltfläche "Zurück zum Anfang"
Schließen

Ooopsi!

Bitte deaktiviere Deinen Adblocker.