Meinung

Saturn, 90er, PC-Abteilung: Weihnachten fürn Arsch

Nicht für Kinder geeignet - diese Folge könnte Arbeitslosigkeit fördern

Weihnachten. Besinnlichkeit, leise knatschender Schnee, eine Tasse Glühwein, Kinder mit großen Augen stehen beim Weihnachtsmann im Einkaufscenter an, Rentiersocken, Duft gebrannter Mandeln, Frank Sinatras "Let It Snow!" im Hintergrund, noch mehr Besinnlichkeit. Oder aber: Seelen zermarternde 12-Stunden-Arbeitstage ...

Zur Kolumne "Saturn, 90er, PC-Abteilung"

Kleine Vorwarnung: Diese Folge wird etwas länger - wie beschissen die Weihnachtszeit wirklich war, lässt sich leider eh kaum per Text vermitteln. Und vielleicht ist nach der Lektüre ja der eine oder die andere von Euch im nächsten Weihnachtsgeschäft gnädiger zum Personal 😉

Sicherlich zeichne ich in dieser Kolumne nicht immer ein besonders angenehmes Bild von der Arbeit im Einzelhandel. Lange Arbeitstage, nervige Kunden, Dauerstress, zermürbende Geräuschkulisse. Oder zur Abwechslung mal quälende Langeweile, wenn wegen Schnee oder Hitze die Kunden ausblieben.

Quantitativer Horror

Weihnachten war allerdings ein ganz anderes Biest. Ich fange mal mit dem Quantitativen an. Von Mitte/Ende Oktober bis Ende Januar war Urlaubssperre. Das ist eine lange Zeit, vor allem, wenn man bedenkt, dass im Saturn natürlich auch Samstags gearbeitet wurde und wird. Selbst Heiligabend und Sylvester durften wir bis 14.00 Uhr Kunden bedienen. Freilich, normalerweise hatten wir durchaus eine 5-Tage-Woche, für den Samstag gab es einen Tag in der Woche frei. In der Weihnachtszeit lief es aber dann meist auf 5 1/2 bis 6 Tage hinaus.

Auch die gedachten 8 Stunden pro Tag konnte man getrost in der Pfeife rauchen: Wir haben um 10.00 Uhr geöffnet und um 20.00 Uhr geschlossen. Heißt: 09:30 Uhr antanzen, 21:00 Uhr Feierabend - schließlich müssen Waren aufgefüllt, Regale aufgeräumt und sonstige "Kleinigkeiten" erledigt werden, für die im laufenden Kundenbetrieb keine Zeit bleibt. Die angedachte Stunde Pause bestand in der Praxis eher aus 3 mal 10 Minuten Wasser tanken über den Tag verteilt.

Qualitativer Horror

In der kompletten Weihnachtszeit war der Saturn damals voll - und ich meine Kirmes-voll! Wenn die Türen aufgingen, standen in der Regel schon ein paar Dutzend Kunden vor der Tür. Und natürlich: Von wegen Besinnlichkeit, quasi alle Kunden wollten einfach nur schnell rein, beraten werden und wieder raus. Logisch, schließlich war die Luft im Saturn furztrocken, warm und staubig - weil es statt einer Klimaanlage nur die 70er-Jahre-Luftversorgung aus dem Kaufhof gab.

Und jetzt redet mal in trockener, warmer Luft 10 Stunden ohne Punkt und Komma - rissige Lippen garantiert. Dazu noch palettenweise Computer und Monitore vom Lager auf Einkaufswagen der Kunden buxieren - eingetrockneter Schweiß ebenso garantiert. Die verdammten Saturn-Hemden habe es auch nicht besser gemacht. Füße? Logisch, stinkend, verschwitzt und schrumpelig nach einem halben Tag. Garniert wird diese Arbeit mit Kunden, die ständig in Gespräche reingrätschen - "Ich will nur ganz kurz wissen ..."

War man schon mit einem anderen Kunden im Gespräch, hat oft ein kurzes "Ich bin gerade im Gespräch" geholfen. Oft, nicht immer. Schlimmer: Man hetzt alleine durch den Laden, um zum Beispiel Ware für einen Kunden aus dem Lager zu holen - was ständig vorkam, weil Rechner/Monitore riesig waren und unser Saturn hingegen sehr klein. Dann angesprochen, wurde der Hinweis auf ein laufendes Kundengespräch meist nur mit Beschimpfungen entgegnet. Klar, Weihnachten, allen haben es eilig, niemand will länger im lauten, heißen Saturn verbringen ...

Ach, habe ich erwähnt, dass ich als Azubi natürlich auch zwei mal die Woche in die Schule durfte? Da haben Arbeitstage dann eben um 7:00 Uhr angefangen - was für ein Spaß 🙂

Und noch etwas hat zumindest meine Arbeitstage versüßt: Ich erwähnte bereits, dass ich die Dispo für die Software-Abteilung gemacht habe, vorne im Laden. Und jetzt stellt Euch die Weihnachtssituation nochmal vor - und dann, wie so ein verdammter Verkäufer mit irgendeinem Typen, der nicht nach Kunde aussieht, mitten im Laden durch Kataloge und Listen geht. DAS hat Kunden mal wirklich verärgert. Aber was hätte ich machen sollen? Wenn man täglich für zig Tausend D-Mark Software vertickt, muss auch Ware nachbestellt werden. Verständnis der Kunden? Null. "Ich will ja nur mal kurz ..."

Der übertreibt doch ...

Nein, leider nicht. Seht es mal so: Computer und Software wurden damals vor allem im Saturn gekauft, Online war noch gar kein echtes Thema. Ein damals üblicher 19"-Röhrenmonitor hat über 20 kg gewogen, ein Rechner samt Zubehör vielleicht knapp 20 kg. Und allein von dieser Kombi gingen täglich Dutzende über den Ladentisch. Und alle Kunden, die heute bei Amazon klicken, standen damals vor Ort im Laden. Vergleicht es besser nicht mit einem heutigen Saturn-Besuch ...

Bei den Arbeitsstunden höre ich auch schon ein "Das ist doch illegal ..." Nun, arbeitsrechtlich war das sicherlich nicht immer alles in Ordnung, aber letztlich hat auch kein Kollege in unserer Abteilung auf irgendwelche Rechte bestanden. Und ich behaupte mal: Weil wir uns alle sehr gut verstanden haben, allen klar war, wie wichtig das Weihnachtsgeschäft ist und niemand auf dem Rücken der Kollegen auf Rechte bestehen wollte. Und naja, als Verkäufer - Fachberater, wie es eigentlich heißt - war man auch nicht unbedingt in der Position, einen auf dicke Hose zu machen. Als Azubi schon mal gar nicht.

Aber bei allem Stress: Ich war Anfang 20, ziemlich engagiert und konnte damit umgehen. Heutzutage würde ich nach einem 90er-Jahre-Saturn-Weihnachtsmonat in Kur gehen (müssen).

Also nein, nicht übertrieben. Das Ende eines Arbeitstags sah genau so aus: Verschwitzt, stinkend, trockener Mund, rissige Lippen, feuchte Füße. Nach Feierabend noch zwei, drei Bier mit den Kollegen im Aufenthaltsraum, gegen 22:00 Uhr zu Hause, Essen von der Tanke.

Immer noch kein Mitleid? Verdammt 😉 Zum Jahresabschluss, mitten im Weihnachtsgeschäft, gab es natürlich immer noch ein Schmankerl namens Inventur: Und wann macht man die? Im Alltag ist da ja keine Zeit für. Logisch, Samstags nach Ladenschluss (das war damals noch um 16:00 Uhr) bis ein, zwei Uhr nachts und der Rest dann am Sonntag.

Was mich durch die Zeit gebracht hat? Ehrgeiz, Jugend, Umsatzzahlen. Da ich die Software-Abteilung verantworten durfte, waren es schon irgendwie meine Zahlen. Die genauen Umstätze habe ich leider nicht mehr im Kopf, aber es war schon beeindruckend, wie viel Geld tagtäglich für Software über den Ladentisch ging. Mehr Lohn als diesen Erfolg gab es freilich nicht. Denn auch wenn meine schlimmsten Wochen auf über 80 Stunden Arbeit kamen - Azubis machen keine Überstunden ...

Immer noch kein Mitleid? Kein Problem, mir geht es hier auch um etwas ganz anderes: Auch wenn es im Einzelhandel heute nicht mehr ganz so apokalyptisch sein sollte, weil Vor-Ort-Kunden weniger sind und nicht mehr im Halbstundentakt 50-Kilogramm-Computer-Sets kaufen, habt etwas Verständnis für das Personal, Einzelhandel ist bisweilen einfach anstrengend und desillusionierend.

Insofern: Ho, ho, ho und Merry Christmas!

In der nächsten Episode muss ich dann mal mit mir selbst schimpfen und das Dilemma mit der Altware beleuchten - shame on me ...

Mirco Lang

Freier Journalist, Exil-Sauerländer, (ziemlich alter) Skateboarder, Dipl.-Inf.-Wirt, Einzelhandelskaufmann, Open-Source-Nerd, Checkmk-Handbuchschreiber. Ex-Saturn'ler, Ex-Data-Becker'ler, Ex-BSI'ler. Computer-Erstkontakt: ca. 1982 - der C64 des großen Bruders eines Freunds. Wenn Ihr hier mehr über Open Source, Linux und Bastelkram lesen und Tutonaut unterstützen möchtet: Über Kaffeesponsoring via Paypal.freue ich mich immer. Schon mal im Voraus: Danke! Nicht verpassen: cli.help und VoltAmpereWatt.de. Neu: Mastodon

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