MeinungWeb & Netzkultur

Rant: Die neue Diskussionskultur im Netz ist doch scheiße

Früher gab es so etwas, das nannte sich Diskussionskultur. Man teilte seine Meinung mit, musste sich Kritik anhören, brachte Gegenargumente oder stellte Fragen. Auch wenn man nicht einer Meinung, ja sogar völlig gegensätzlicher Ansicht war, war das interessant und blieb zumeist folgenlos. Dank Facebook hat sich das geändert: Im deutschen Konsens-Web ist jeder, der nicht der eigenen Meinung ist, ein Troll, ein Nazi oder ein Aluhut– und wird gnadenlos „entfreundet“. Wo ist sie nur hin, die Debattierkultur?

Diskussionen um den Zweck von Selfies

Kürzlich postete jemand einen Artikel über eine Menschenmenge, die ein gestrandetes Delfinbaby im Selfie-Wahn zu Tode folterte. Furchtbare Geschichte, die den üblichen Facebook-Weg nahm: Am ersten Tag von einigen wenigen gepostet, am zweiten Tag von allen gesehen, gelikt, geteilt und kommentiert und an Tag drei vergessen. Abermillionen von menschheitskritischen Postings dürften an diesem Tag verfasst worden sein, frei nach dem Motto: „Die Menschheit ist scheiße, dass sie sowas mit einem Delfin macht.“ Das wurde von den gefühlt 200.000 Fans des Posters natürlich immer schön kommentiert, trauriges Smiley und „Menschen sind scheiße!“ Zwei Postings später dann das obligatorische Foodporn, diesmal: Meine Grillsteaks, meine neuen Lederschuhe. 10.000 Likes. Oder so ähnlich.
Ihr merkt, worauf ich hinaus will?
Ich – böser Billigfleischkäufer und Lederschuhträger – wagte es also, den Poster, ebenfalls – Grillfan und Lederliebhaber – darauf hinzuweisen, dass er doch auch kein Veganer sei, ergo der tote Delfin ebenso durch menschliche Hand leiden musste wie Schweine, Hühner und sonstiges Getier, der „Schock“ also relativ sei. Dass es letztlich keinen Unterschied machte, ob ein Baby-Delfin im Selfie-Rausch einer Horde Touristen zum Opfer fällt oder ob die Grillsteakschweine bei Viehtransporten ohne Bewegung und Wasser durch die halbe EU gekarrt werden. Mein Gott, war da die Hölle los.

Diskussionskultur
Die Sache mit der Diskussionskultur (Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Diskussion-Icon.svg)

Von der Bigotterie der Facebook-Gemeinde

Zunächst wurde mir mitgeteilt, das habe nichts miteinander zu tun. Als ich nachhakte und nachfragte, warum totgequälte Delfine und Pelzkrägen traurig, Grillsteaks und Lederjacken aber cool seien, wurde mir erklärt, dass letzteres einem Zweck diene, ersteres hingegen nicht. Ich wiederum entgegnete, dass der tote Babydelfin für die beteiligten Personen durchaus einen Zweck hatte, nämlich „lustige“ Bilder bei Facebook und für die Verwandtschaft schießen, wobei das „lustig“ natürlich im Auge des Betrachters liege. Das war dem Facebook-Nochfreund zu viel, ich wurde als Troll beschimpft und bekam den väterlichen Rat, dass „diese Diskussion“ ja wohl „unter meinem Niveau“ sei. Jetzt wollte ich es erst recht wissen und wies darauf hin, dass man jede Schandtat mit einem Zweck rechtfertigen könne. Der Poster tobte in seinem selbstgerechten Elfenbeinturm und schwang ebenso wütend wie verunglückt die Nazikeule: „Nach Deiner Argumentation hat der Holocaust dann auch einem Zweck gedient.“ Was soll man dazu noch sagen? Ich hätte mich jetzt weit aus dem Fenster lehnen können, um ihn in seiner Erkenntnis zu bestätigen: Ja, auch der Holocaust hatte für die Nationalsozialisten einen, wenn auch fürchterlichen, Zweck. Wobei „fürchterlich“ eben auch sehr relativ ist, wie die täglichen Nachrichten aus dem nahen Osten beweisen. Mit diesem „Argument“ hatte sich mein Gesprächspartner selbst widerlegt und mich bestätigt, schließlich hat er mein Argument (Zweck = willkürlich) angenommen. Einzig: Hätte ich jetzt noch ein Wort getippt, wäre ich der böse Bub gewesen. Ich hätte in meiner Argumentation Babydelfine, Grillschweine und den Holocaust irgendwie unter einen Hut bringen müssen, was auf dem moralisierend-oberflächlichen Niveau von Facebook-Diskussionen natürlich gnadenlos in die Hose gegangen wäre. Und so war ich plötzlich der, der Babydelfine, Grillsteakschweine und den Holocaust irgendwie zusammengebracht hatte – und damit der Böse.

Entfreunden gegen unliebsame Meinungen

Wenige Tage später fiel mir auf, dass ich nicht mehr 15 Mal am Tag eine Nachricht bekam, dass mein Diskussionspartner wieder irgendeinen Bullshit geteilt hatte. Ich schaute also nach und siehe da: Ich war „entfreundet“ worden. Zur Sicherheit. Damit ich bloß nicht weiter seine Timeline trollte. So laufen Diskussionen 2016: Unliebsame Meinungen werden unterbunden, indem man alle, die nicht der gleichen Meinung sind wie man selbst, aus dem Verkehr zieht. Ich muss dazu sagen, dass ich zuvor niemals zuvor relativierende Diskussionen über Leid und Moral geführt habe. Werde ich auch nicht mehr.

Gleiche Diskussion, anderes Thema

Wenige Tage später dann wieder ein Posting, diesmal meinerseits: Ich verlinkte einen Artikel mit einem Video, in dem ganz offensichtliche Hipster gegen die Gentrifizierung ankämpfen, indem sie per Flashmob anderer Leute Eigentum beschädigen. Das sah dann so aus:

Flashmob-Gentrifizierung-Video
Video-Posting bei Facebook, Text: „Wenn Gentrifizierer gegen Gentrifizierung vorgehen wollen, sollten sie einfach die Stadt verlassen. Mal drüber nachgedacht, flashmobbendes, selbstgerechtes Hipsterpack?“

Gut, ich wollte polarisieren, aber diese zugezogenen Szenegänger und Latte-Macchiato-Schlürfer, die die Mietpreise treiben, gehen mir schon seit geraumer Zeit auf den Keks. Flashmob und Guy-Fawkes-Masken sind eindeutige Indizien für Menschen mit Internet-Hintergrund, die Flashmobber sind also ganz bestimmt nicht dem klassischen Proletariat zuzuordnen, dessen Aussterben in den Stadtvierteln durch hohe Mietpreise ja angeblich ihre größte Sorge ist. Mit anderen Worten: Die Flashmobber sind selber Teil des Problems, ihre hohe Nachfrage nach Wohnungen in bestimmten Vierteln treibt die Preise, gleichzeitig beweisen sie, dass sie den Kapitalismus nicht verstanden haben, wenn sie dafür Vermietern den schwarzen Peter zuschieben. Das ist wie bei den Leuten, die im Stau stehen und über den Verkehr schimpfen oder die, die sich samstagsabends an der Kinokasse aufregen, dass alle Leute Samstagabend ins Kino wollen. Das drückte ich in meinem Post aus, indem ich den Begriff „selbstgerechtes Hipsterpack“ ins Spiel brachte. Das war mein Fehler. Denn statt Argumenten gab’s direkt auf die Fresse: Was ich mir einbilden würde, die Flashmobber als Pack zu bezeichnen, das sei doch überhaupt nicht mein Niveau, wurde ich per Kommentarfunktion ermahnt. Da war er schon wieder, dieser väterliche Niveau-Ratschlag, den ich so gut leiden kann. Und da war auch wieder diese blinde, eindimensionale Mischung aus Gutfinderei einer höheren Moral. Was soll der Blödsinn? Niveau ist ein Bullshit-Argument, noch dazu, wenn es von Leuten vorgetragen wird, deren sonstige Postings eben dieses Niveau massiv in Zweifel ziehen.

Digitaler Narzissmus greift um sich

Und so entspann sich auch hier eine kleine Diskussion, immerhin ohne Entfreunden diesmal. Übrig blieb das flaue Gefühl, dass die Sache mit der freien Meinungsäußerung im Web irgendwie in Schieflage geraten ist in den letzten Jahren. Das mag an Facebook liegen, dessen Währung Likes und „Freunde“ sind, die man in der Regel nicht oder nur sehr flüchtig persönlich kennt. Ein Entfreunden wegen solch banaler Kleinigkeiten kommt dem Versuch gleich, unliebsamen Meinungen das Wort zu verbieten. Neulich hörte ich im Radio einen Medienfachmann, der sich brüstete, alle zu „entfreunden“, die nicht der eignen Meinung seien. Auch er habe das schon oft getan, „insbesondere beim Flüchtlingsthema“ und überhaupt. Hier keimt der Verdacht auf, dass die Facebook-Konsens-Poster sehr einsame Menschen sind: Für dieses Diskussionsverhalten würden sie im echten Leben schnell abgewatscht und von Freunden aus Fleisch und Blut gerügt oder ignoriert, während diese Konsens-Postings im halbanonymen Raum der sozialen Netze tausende Likes erzielen und damit Selbstbewusstsein aufblühen lassen.

Hört doch mit dem Gruppenkuscheln auf!

Menschen, die anderer Meinung sind, gar diskutieren und am Ende womöglich sogar Recht behalten, entlarven das narzisstische und selbstgerechte Weltbild dieser Leute und sind damit unerwünscht. Werden die Konsens-Poster dabei ertappt, argumentieren sie mit „Niveau“, irgendwas mit Nazis, blocken ab oder entfreunden den unliebsamen Gegner schnellstmöglich, um jede weitere Debatte zu verhindern. Das ist nicht nur vorhersehbar, sondern auch reproduzierbar, völlig egal, welcher politischen Argumentationslinie das Gegenüber folgt. Gleichzeitig setzt ein Doppeldenk beim Posten ein: Soll man das jetzt schreiben – oder riskiert man, dass dutzende Freunde „abspringen“? So kommt es dazu, dass nur gepostet wird, dem jeder zustimmt, digitales Gruppenkuscheln sozusagen. Immerhin: Auch der gewaltsame Abbruch einer Diskussion beendet diese mit einer Erkenntnis. Der Erkenntnis nämlich, dass die Diskussionskultur im Netz inzwischen echt scheiße ist. Übrigens: Man ist nicht gleich ein Troll, weil man gerne kluge Gegenargumente lesen würde. Auch das ist eine unumstößlichen Wahrheiten der neuen, beschissenen Diskussionskultur im Netz. Dabei wäre die Lösung so einfach: Leben und leben lassen – und sich statt platter Konsens-Statements wieder eine eigene Meinung und ein wenig Mut zur Argumentation zulegen!

Christian Rentrop

Diplom-Journalist, Baujahr 1979. Erste Gehversuche 1986 am Schneider CPC. 1997 ging es online. Seither als Schreiberling in Totholzwäldern und auf digitalen Highways unterwegs. Öfter auch auf der Vespa oder mit dem Wohnwagen unterwegs. Seit 2020 Tochtervater, dementsprechend immer sehr froh über eine kleine Kaffeespende.

3 Kommentare

  1. Ich weiß gar nicht, was Du hast, Du Früherwarallesbesserliker. Früher sagte man Ätschibätsch (-> Nazikeule) und Leute wurden geschnitten (entliked) – nun gut, das war in Grundschulzeiten, aber wer sagt, dass diese Altersklasse nicht 80 Prozent der Kommentatoren in sozialen Netzwerken ausmacht?
    Zumal mich der Gedanke verfolgt, dass ernstzunehmende Diskussionen auf Facebook ungefähr so gut aufgehoben sind wie Quelltext in der BamS.

    P.S.: Bei den Delfinmenschen hast Du übrigens den Punkt verfehlt – da gehts nicht um Zweck oder nicht Zweck. Da geht’s um Abstraktion und Abstand: Einzelnes Tier, dass vor Deinen Augen stirbt – ooooch, doof. Viele Tiere, die hinter Mauern sterben – ach ja nu. Schlachte dasselbe Steakschwein auf dem Gehweg, flippen die Delfinfreunde genauso aus. Weis’u, das is‘ wie’n Kind köpfen auffe Domplatte (geht gar nicht), und Kind töten durch Billigchemieproduktion wegen billiger Konsumgüter (kein Problem). Yeeehaaa, wer hat meinen fucking Holzclown, er soll seinen Namen tanzen?!

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