Meinung

Saturn, 90er, PC-Abteilung: Deutschland kauft PCs!

Verkäufer bei Saturn: Möbelpacker, Berater, Schild auf Beinen

Vermutlich wird er Computerabteilung im Saturn niemand große Bedeutung für die Gesellschaft zuschreiben. Auf den zweiten Blick wäre das aber angemessen: Wir dürften damals einen der größten Beiträge zur Digitalisierung des Landes geleistet haben. Haben wir natürlich auch nicht so gesehen, wir haben vor allem Kisten bewegt ...

Zur Kolumne "Saturn, 90er, PC-Abteilung"

Massen. Massen!

Die Abteilung Neue Medien, wie es korrekt hieß, sah damals anders aus als heute. Konkret in Lüdenscheid: Ein kleines Software-Regal mit Jewel-Case-Packungen, rund 4 Regal-Meter Bücher, 10 Regal-Meter Zubehör, Mäuse & Co., 16 Regal-Meter Spiele, eine Wand voller Monitore, ein Handy-Vertrag-Stand und noch ein paar Nischen für Telefone, Faxe und einzelne elektrische Schreibmaschinen. Und eine lustige kleine Ecke für Obskuritäten, wie Lerncomputer, ZIP-Medien, die ersten Ultrabooks.

Der Höhepunkt: Die Hauptfläche mit einem Dutzend Paletten und darauf PC- und Monitor-Kartons - und die berühmten Produktschilder mit Produktdaten. Eine Zeitrafferaufnahme wäre da bestimmt spaßig gewesen, die Karton-Berge würden täglich rauf und runter hüpfen. An guten Tagen gingen da schnell ein paar Dutzend Rechner-Monitor-Kombis raus.

Angefangen habe ich mit einem Monitor-Standard von 14 Zoll, am Ende waren 17 Zoll Standard, 19 Zoll durchaus üblich - und die Dinger sind wahrlich riesig, und schwer, und unhandlich. Das war der Möbelpacker-Part des Jobs. Schließlich mussten die Kisten aus dem Lager in den Laden, vom Laden zu den Kassen und nicht selten haben wir den Krempel auch zum Auto gebracht. Selbst nach Feierabend habe ich mal Rechner zu einem Kunden gebracht - sonst hätte er nicht gekauft, hätte nicht in sein Auto gepasst ;)

Schilder-Berater

Man sagte uns Verkäufern, nun, gemäß Arbeitsvertrag "Fachberater", oft nach, wir würden nur Schilder vorlesen - das stimmt nur halb. Einerseits ja, das hat einen Großteil ausgemacht! Denn Kunden hatten kaum eine genaue Vorstellung, was sie brauchten, kaum jemand konnte all die Megahertz- und Bit-Zahlen einordnen. Das Laufen von Schild zu Schild hat vor allem der Einordnung des Sortiments gedient. Wir wussten vielleicht nicht viel mehr über die Geräte, als auf den Schildern stand (die wir übrigens selbst vorne in der Abteilung gedruckt haben), aber dafür sehr genau, welche Geräte da sind und wie sie sich unterscheiden. Im Subtext war es also mehr als Schilder vorlesen.

Andererseits: Bei den meisten Kunden hieß Verkauf damals eigentlich Grundschulung Computer. In der Regel durfte ich erst mal erklären, was denn überhaupt ein Prozessor ist, was eine Grafikkarte. Auch hatten die Kunden so krasse Ansprüche wie Audio-Ausgabe - heute selbstverständlich, damals musste man noch eine separate Soundkarte kaufen und vor allem selbst einbauen!

Oder Mäuse: Traditionell mit Kugel oder optisch? Standard-Maus für 20 DM oder Colani-Maus für 90 DM? So ziemlich alles war für so ziemlich alle massiv erklärungsbedürftig! Oder wie es im Fachjargon hieß: Beratungsintensiv. Wie bekommt man Inhalte auf Papier? Wie funktioniert eigentlich so ein Desktop? Wofür sind all die Anschlüsse gedacht? Was ist der Unterschied zwischen Desktop-Gehäuse und Tower? Quasi ALLES war für Otto Normalverbraucher neu. Beratungsgespräche von 30 Minuten waren völlig normal. Wenn es um die erste Grundausstattung ging, mit PC, Monitor, Peripherie und Zubehör, war auch schnell eine Stunde rum.

Und häufig wurden wir auch später gerne nochmal aufgesucht: Wie installiere ich denn den Treiber? Wo finde ich unter Windows den Taschenrechner? Wie schreibe ich einen Brief? Die Erwartungshaltung der Kunden: Ich habe hier für viel Geld was gekauft, da kann ich auch verlangen geschult zu werden ... Handbücher waren auch damals schon selten vorhanden geschweige denn gut und Internet zum Nachgucken war auch keine Option. Also entweder Bücher kaufen oder Verkäufer fragen. Klar, kostete Zeit und in einem rappelvollen Laden mit kaufwilligen Kunden kann man (sich) das nicht immer leisten, aber zumindest bei uns war der Grundgedanke Service noch vorhanden: Zufriedene Kunden kommen wieder! Und ganz ehrlich: Es macht auch mehr Spaß Kunden zu beraten, als ihnen nur irgendeinen Scheiß in den Einkaufswagen zu packen und dann aus der Tür zu schieben.

Digitalisierung 0.1.beta

1996 hat noch niemand groß von Digitalisierung gesprochen und in der Schule musste man schon sehr viel Glück haben, um mit PCs in Berührung zu kommen. Ich hatte das Glück und habe gelernt, was Algorithmen sind und blind zu tippen. Unser Direx war Computer-affin, aber leider auch ein Armleu... Egal, der Saturn war DER Ort, wo Digitalisierung stattgefunden hat. 1998 hatten gerade mal rund 39 Prozent der Haushalte einen PC oder Laptop, 2003 waren es bereits 61 Prozent, 2018 über 90 Prozent. Noch deutlicher dokumentiert vermutlich diese Zahl, dass die 90er noch Industrie-, nicht Informationszeitalter waren: 98 hatten 11,2 Prozent der Haushalte ein Mobiltelefon, 2003 immerhin 72,5 Prozent (Quelle: Statistisches Bundesamt)!

Wir haben die Haushalte mit Hard- und Software ausgestattet und das aufgebaut, was heute unter Allgemeinwissen fallen dürfte. Nun, natürlich nur im Nachhinein betrachtet. Damals war unser Selbstverständnis eher eine Mischung aus Kunden-Faktotum und Muli.

In der nächsten Folge wird es kurz und schmerzhaft, ich werde von meinem ersten persönlichen Martyrium berichten - keine Angst vor dem Schnitter ... #RetroGaming ;)

Mirco Lang

Freier Journalist, Exil-Sauerländer, (ziemlich alter) Skateboarder, Dipl.-Inf.-Wirt, Einzelhandelskaufmann, Open-Source-Nerd, Checkmk-Handbuchschreiber. Ex-Saturn'ler, Ex-Data-Becker'ler, Ex-BSI'ler. Computer-Erstkontakt: ca. 1982 - der C64 des großen Bruders eines Freunds. Wenn Ihr hier mehr über Open Source, Linux und Bastelkram lesen und Tutonaut unterstützen möchtet: Über Kaffeesponsoring via Paypal.freue ich mich immer. Schon mal im Voraus: Danke! Nicht verpassen: cli.help und VoltAmpereWatt.de. Neu: Mastodon

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