Krankes Sternesystem: Glaubt keiner Online-Bewertung!

Vertraut Ihr Online-Bewertungen, Google-Rezensionen oder allgegenwärtigen Sternesystemen? Lasst es: Das ganze System ist krank.

Vor einiger Zeit bekam ich eine Mail von Google: Der Anwalt eines Unternehmens hatte sich über meine Rezension eben dieses Unternehmens bei Google beschwert. Bei dem Unternehmen hatte ich vor einigen Jahren ein Möbelstück gekauft und war weder vom Service, noch von der Qualität sonderlich angetan. Das schrieb ich in die Google-Bewertung. Und lernte ganz nebenbei, dass man Rezensionen und Bewertungen im Internet inzwischen völlig vergessen kann.

Google besitzt eine eigene Removal-Sparte: Hier können sich Unternehmen melden, deren Betreiber sich in irgendeiner Form in einer Online-Bewertung falsch behandelt fühlen. Das hat gute Gründe: Schlechte Online-Bewertungen können kleine, mittelständische Unternehmen oder Gastro den Kopf kosten, gute Rezensionen einem Anbieter, Dienstleister oder Unternehmen viel Geld bringen.

Kein Wunder also, dass viele Unternehmen darauf bedacht sind, hier mit möglichst vielen Sternen zu glänzen – allerdings oft genug nicht durch Service oder Qualität, sondern durch die anwaltliche Hintertür: Negative Rezensionen werden mit deren Hilfe aus dem Web getilgt. Es gibt Bewertungsfarmen für positive Reviews und Fachanwälte, sogenannte Reputationsanwälte, die sich darauf spezialisiert haben, negative Kommentare zu entfernen.

Online-Rezensionen sind nichts mehr wert

Dass Bewertungssysteme wenig aussagekräftig sind, ist natürlich nichts Neues: Leute bewerten, wenn ihnen ein Produkt oder eine Dienstleistung besonders gut gefällt – oder besonders schlecht. Dementsprechend kann man auf allen Plattformen eine gewisse Glockenkurve zwischen hervorragenden und miesen Bewertungen feststellen, das Mittelfeld ist kaum vertreten.

Und dann gibt es da noch ganze Geschäftsparten, wo Kunden wirklich nur meckern, wenn was ist – und nie jemand lobt: Telekommunikation zum Beispiel, oder Versicherungen. Dass bei den meisten Kunden alles gut läuft und sich nur ein gewisser Anteil an Meckerfritzen hier Luft macht, wird beim Durchsehen der Rezensionen völlig ausgeblendet. Man gewinnt den Eindruck, es mit dem schlechtesten Unternehmen der Welt zu tun zu haben.

Bewertungen sollen eigentlich helfen

Allerdings gibt es durchaus auch schlechte Bewertungen, die ihre Berechtigung haben. So wie meine. Das betroffene Unternehmen war weder besonders klein, noch war ich ganz besonders sauer, aber der Service war, sagen wir mal: Nicht so gut. Und die Qualität des Produkts war in der Tat drittklassig.

Und so so tat ich, wie alle Internetnutzer, die sich ärgern, tun – und krawallte meine Erfahrungen in eine Google-Bewertung des Unternehmens. Die war nicht verärgert oder boshaft, sondern einfach ein Hinweis für andere potentielle Kunden, dass man hier vielleicht nicht das Beworbene bekommt.

Viele Jahre (!) später kam dann folgendes Schreiben per Mail von der Google-Adresse removals@google.com, inklusive dem ursprünglichen Text der Bewertung und Googles Hinweis, die Inhalte doch bitte zu prüfen und gegebenenfalls Nachweise des Geschäftskontakts zur betroffenen Firma zu überbringen. Der anwaltliche Einlass in der Mail:

Diese Bewertung muss vollständig entfernt werden, da der Rezensent „Christian Rentrop“ meinem Mandanten nicht bekannt ist. Es bestand zu keinem Zeitpunkt eine geschäftliche Beziehung zwischen meinem Mandanten und „Christian Rentrop“. Die falschen Inhalte der Bewertung die der Rezensent verbreitet schädigen das Geschäft meines Mandanten in erheblichem Umfang und widersprechen Ihren Richtlinien.

Anwaltliche Anwürfe in der Mail von Google

Das Unternehmen kennt mich nicht

Was ja nun nicht stimmte. Der Anwalt behauptete also Google gegenüber einfach, das Unternehmen kenne mich nicht – obwohl ich sogar unter echtem Namen gepostet hatte. Die hätten bloß in ihre Unterlagen gucken müssen: Schließlich hatte ich bei dem Unternehmen Jahre vorher ein nicht ganz günstiges Produkt erworben und mich mich recht bald nach dem Kauf über Service und Qualität geärgert.

Deswegen – nachdem ich mir bei dem Unternehmen selbst die Zähne ausgebissen hatte – habe ich die Rezension verfasst. Die Rechnung hatte – und habe (!) ich auch noch, allerdings vergraben in einem Steuerordner von damals. Was tat ich also? Genau:

Ich habe die Bewertung gelöscht. Ganz einfach. Weg damit.

Warum? Weil ich weder Lust hatte, wegen einer ollen Bewertung zu einem Produkt, das ich aufgrund der Qualitätsmängel längst weggeschmissen hatte, irgendwelche Dokumente zu suchen. Noch, sie zu scannen, an Google zu schicken und zu hoffen, dass der Anwalt des Unternehmens kein größeres Fass aufmacht. Ich gehöre auch nicht zu diesen Leuten, die immer unbedingt Recht haben müssen. Kurzum: Ich habe mich gebeugt, weil mir der ganze Vorgang im Grunde total egal war.

Zahllose User dürften betroffen sein

Nun ist es aber so, dass ich sicherlich nicht der einzige bin, der von dem Anwalt des Unternehmens kontaktiert wurde. Denn ich war nicht der einzige Kunde, der eine meckrige Bewertung hinterlassen hatte. Den Laden gibt es inzwischen aus Gründen nicht mehr, vermutlich wegen der Qualitäts- und Service-Mängel.

Aber ich nehme stark an, dass der ehemalige Geschäftsführer bis heute wegen der bösen Online-Bewertungen weint, die sein Geschäft kaputt gemacht haben. Sagen wir es mal so: Von nichts kommt nichts – und schlechte Bewertungen muss man sich, genau wie gute, verdienen.

Das Problem dabei: Ich nehme an, dass solche Vorfälle im Hintergrund sehr, sehr häufig vorkommen. Meine kleine Servicewüste war sicher nicht das einzige Unternehmen, das Kanzleien zwecks Rezensionstilgung beauftragt. Und ich bin sicher nicht der einzige Kunde, der dann halt löscht, um weiteren Nerv mit Anwälten zu vermeiden.

Es gibt natürlich auch die andere Seite

Natürlich gibt es auch noch die andere Seite: Konkurrenten, die sich gegenseitig mittels Bewertungen das Geschäft madig machen möchten. Kunden, die einfach schädigen wollen, weil sie miese Laune haben oder einen schlechten Tag erwischt haben. Oder eben Geschäftsführer, die sich per VPN nachts selber ein paar gute Bewertungen – und dem Laden gegenüber ein paar schlechte – schreiben. Gerade im Gastro-Bereich sind Reviews daher auch sehr subjektiv. In solchen Fällen kann ein Reputationsanwalt natürlich helfen, und das völlig berechtigt.

Hinzu kommt noch der „menschliche Faktor“: Mir ist über die Jahre aufgefallen, dass zum Beispiel Restaurants mit besonders großen Portionen besonders gut bewertet werden, unabhängig von der Qualität. Wenn ein solcher XXL-Schnitzel-Kunde plötzlich beim Geschäftsessen im feinen Lokal sitzt, beschwert er sich möglicherweise über zu kleine Portionen.

Schlechter Service samt entsprechender Bewertung kann natürlich punktuell auch viele Ursachen haben, etwa Fachkräftemangel oder unerwartetes Wetter mit deutlich erhöhtem Besucherandrang. Dadurch sind die Bewertungen aber erst recht nichts wert – auch ohne Manipulation.

Bewertungssysteme sind für die Tonne

Berücksichtigt man all diese Faktoren, kann man nur zu einem Schluss kommen: Das ganze Online-Bewertungssystem – nicht nur bei Google – ist für den Eimer: Schlecht bewertet ist nur noch, wer sich keinen Bewertungs-Tilgungs-Anwalt leisten kann oder will oder sich schlicht nicht drum schert. Unternehmen, die tatsächlich gut sind, können auch mal eine schlechte Bewertung verkraften, weil ein Mitarbeiter mit dem falschen Fuß aufgestanden ist. Bei Unternehmen, die dazu einen Anwalt zu Hilfe nehmen müssen, liegt deutlich mehr im Argen.

Dummerweise gibt es viele Menschen, die sich auf die Bewertungen verlassen: Egal ob in Online-Shops oder bei Google, die 4,9 von 5 macht natürlich einen deutlich besseren Eindruck als eine 2,5 von 5 oder gar eine 1,0 von 5.

Würdet Ihr in so ein Restaurant gehen? Mit so einer Bewertung? Würdet Ihr ein teures Produkt in einem Shop kaufen, der eine solche Bewertung bei Google hat?

Ich inzwischen schon. Wieder. Weil ich jetzt weiß, dass die Online-Bewertungen für die Tonne sind: Im Hintergrund laufen Bewertungs-Farming, Juristerei und Bestechung der Kunden durch Gratis-Produkte. Gleichzeitig kommentieren in aller Regel Kunden, die sich wirklich gefreut oder wirklich geärgert haben.

Was wiederum bedeutet, dass einfach keine Sternewertung mehr irgendeine Relevanz hat.

Ja, man kann noch nicht einmal mehr eine Tendenz ableiten, weil man nicht weiß, ob nicht der Anwalt des Unternehmens einfach alle schlechten Bewertungen hat löschen lassen oder ob der Betreiber massiv Bewertungs-Farming betreibt.

Fazit: Ich lasse mir schlechte Produkte und schlechten Service wieder schmecken – und entscheide selbst!

Ich finde allerdings, dass mir der Missbrauch – und das Wissen darüber – auch wieder eine gewisse Offline-Freiheit zurück gibt: Statt vor jedem Geschäft, vor jedem Restaurant zu stehen und erstmal Google-Reviews zu checken, um alles unter vier Sternen zu meiden, kann ich jetzt wieder guten Gewissens einfach in irgendein Geschäft reingehen und es ausprobieren.

Und wer weiß? Vielleicht hat der mit 1 von 5 Sternen bewertete China-Wok einfach nur Krach mit dem Dönerladen gegenüber. Ich lasse mir da jedenfalls künftig die Pizza Bombay mit extra Krautsalat und Harissa wieder schmecken. Und wenn ich mir davon den Magen verderbe, gehe ich da halt nicht mehr hin. So wie früher.

Christian Rentrop

Diplom-Journalist, Baujahr 1979. Erste Gehversuche 1986 am Schneider CPC. 1997 ging es online. Seither als Schreiberling in Totholzwäldern und auf digitalen Highways unterwegs. Öfter auch auf der Vespa oder mit dem Wohnwagen unterwegs. Seit 2020 Tochtervater, dementsprechend immer sehr froh über eine kleine Kaffeespende.

Ein Kommentar

  1. Ich kann den Gedanken beim Verfassen dieses Artikels komplett nachvollziehen.

    Im Fall von z.B. Google (Rezensionen) kann sich ein Unternehmen (leider) nicht einer Bewertung entziehen. Es ist auf Gedeih oder Verderb darauf angewiesen, dass die Bewertungen wenigstens ehrlich sind … und genau das sind sie oft nicht. Im Artikel wurde bereits darauf hingewiesen, dass es inzwischen eine ganze Industrie gibt, die gute Bewertungen vergibt und eine Industrie, die negative Einträge entfernt.
    Nicht erwähnt wurde aber z.B. der böse Wettbewerber, der über Mittelsmänner böse/schlechte Rezensionen verfassen lässt. Sich dagegen zu wehren ist quasi ein Don Quijote Spiel.
    Es hilft aber oft (egal ob Amazon oder Google), nach anderen Bewertungen des gleichen Rezensenten zu suchen. So bekommt man ein Gesamtbild von der Kompetenz.

    Apropos Kompetenz: mir gehen eher die ganzen Affiliate-‚Test‘ Seiten gegen den Strich.
    Die Geschäftsidee dahinter ist clever (und absurd): man ‚testet‘ (oft bettelt man beim Hersteller auch noch um ein Testmuster) nach wenig durchschaubaren / nachvollziehbaren Kriterien mit mangelnder Kompetenz. Anschließend gibt es ein ‚Ranking‘ und immer einen Affiliate-Link zu Amazon (d.h. jeder Klick generiert ein wenig Geld für den Betreiber der ‚Testseite‘.
    Wenn man das Prinzip auf die Spitze treiben möchte, vergibt man unter den ersten dreien ein ‚Testsieger‘ Label für das die Hersteller dann auch noch zahlen dürfen, wenn Sie es einsetzen möchten.
    Es wird höchste Zeit, dass Google Seiten mit mehr als einem Affiliate-Link im Ranking herunterstuft.

    Ich werde erst mal weiterhin (Google) Rezensionen lesen und selbst welche verfassen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Empfohlene Beiträge

Schaltfläche "Zurück zum Anfang"
></div>